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Nach Wurzeln kommen Flügel

Nach Wurzeln kommen Flügel, so heisst es. Aber auch bei Kind 2 stolpere ich schon wieder ständig über die fetten Wurzeln, für die ich in der Vergangenheit gesorgt hatte. Wurzeln zu geben fällt mir leicht. Ganz nach dem Motto "ein Baby kann man nicht verwöhnen" auf alle Bedürfnisse einzugehen, bereitet mir ein gutes Gefühl. Ich habe beide Kinder nach Bedarf gestillt, hatte sie viel in der Trage, habe sie mit uns im Familienbett schlafen lassen. Die Nähe machte mir nichts aus, ich fand es wundervoll zu sehen, wie diese satten und zufriedenen Babys in meinen Armen schliefen, randvoll mit dem Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Ich hatte das Gefühl, alles richtig zu machen, denn zu viel Liebe kann man ja schließlich nicht geben. Bis ich aus meinem Oxytocinrausch aufwachte...viele Monate später...die Kinder waren abgestillt, mit dem Laufrad unterwegs und sprechend...da sah die Welt meiner Emotionen auf einmal komplett anders aus. 

Zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag, also in der Trotzphase, gelten auf einmal gänzlich andere Gesetze als im ersten Lebensjahr. Die Kinder testen ihre Grenzen aus, wollen autonom werden, wollen sich reiben und wachsen. Das ist gut und wichtig und gesund und...und zunächst ganz schön frustrierend für das ein oder andere Mutterherz, meinem eingeschlossen. Denn zwar sehnen auch wir Mütter uns nach zurück zu erlangenden Freiräumen und Autonomie, aber dass das Loslassen mit so vielen Konflikten einhergeht, ist für eine bedürfnisorientierte Gluckenmami wie mich doch schwer zu verknusen. Denn jetzt heisst es, auch mal "Nein" zu sagen! Nicht mehr auf jedes Bedürfnis einzugehen, um dem Kind ein gesundes Maß an Frustration zu gönnen, weil es die Puppe der Freundin eben nicht mit nach hause nehmen kann. Und um seine Zähne und seine Gesundheit vor dem dritten Supermarkt-Lolli zu schützen. Und um seinen Kopf vor einer Gehirnerschütterung zu schützen, weil es eben beim Laufradfahren einen Helm aufsetzen muss. Und um ihm zu ermöglichen, in einem Kindergarten mit anderen Kindern zu spielen, obwohl es ja eigentlich auf keinen Fall ohne Mama irgendwo bleiben möchte. Und und und. Es gibt so viele von diesen Situationen, die uns so sehr emotional fordern können, denn wir tun jetzt vermeintlich das Gegenteil von dem, was wir in der ersten Zeit getan haben: Wir scheinen das Weinen und den Frust, das Schreien und die doofen Gefühle auszulösen! Damals waren wir es, die jedes Weinen, jeden Frust, jedes Schreien und jedes doofe Gefühl im Keim erstickten! Durch die Brust, das Tragen, das Kuscheln, Gesang und einfach unsere Anwesenheit. Das macht diese unglaubliche Ambivalenz der Gefühle für mich aus. Denn an der Liebe zu unserem Kind hat sich ja nichts geändert, wir würden am liebsten immernoch so handeln wie im ersten Lebensjahr, doch die Kleinen zwingen uns sozusagen dazu, uns nicht mehr so zu verhalten. Sie fordern uns täglich, manchmal sogar stündlich zu kleinen Duellen heraus. Und so stehen wir da und sind auf einmal der Bad Cop: „Nein!“ sagen wir, und unser kleiner Schatz ist aufgelöst. Und er weiß nicht, dass wir es innerlich auch sind. Nur zu gern hätten wir immer Harmonie zwischen uns, aber so funktioniert die Erziehung nunmal nicht. So würden wir unsere eigenen Bedürfnisse komplett untergraben und würden unsere Kinder nicht schützen und sie auch nicht auf das Leben vorbereiten. „Doch, Mama geht jetzt, viel Spaß im Kindergarten mein Schatz, ich komme nach dem Einkaufen wieder“. Tränen. Meist nicht nur beim Kind, sondern nach dem Abmarsch auch bei der Mama. Ja, Flügel zu geben, das klingt so schön und einfach. Es ist aber nicht selten mit einer großen Portion Überwindung verbunden. Denn Grenzen zu setzen und loszulassen fühlt sich im ersten Moment nicht so irre gut an. Aber wenn man dafür einen liebevollen Weg findet, mit einer Extraportion Kuscheln am Abend zum Beispiel, so ist es eine durchweg positive Tat. Eine Chance für das Kind, sicher und klar in sein Leben zu starten. Und eine Chance für uns Mütter, ihm zu zeigen, dass jeder Mensch Bedürfnisse hat, auch wir Mamas. Dass es gewisse Regeln gibt. Dass wir dem Kind zutrauen, Dinge zu schaffen. Wir tun im Endeffekt also doch das, was wir im ersten Lebensjahr des Kindes getan haben: Wir tun das Beste für das Kind. Nur diesmal fühlt es sich eben erst im zweiten Moment danach an, nicht gleich im ersten.